News · 09.06.2022

Kann Führung in Unternehmen auf Liebe basieren?

Und wenn ja – wie soll das funktionieren und welche Auswirkungen hat es? Ein Interview mit Michael Retzlaff, Absolvent des MBA General Management.
Dozent spricht vor Whiteboard
Michael Retzlaff hat Führungserfahrung in verschiedenen Unternehmen. In seiner Master-Thesis im MBA trieb ihn die Frage um, "wie auf Liebe basierte Führung funktioniert". Wir haben ihn interviewt.

Menschen verlassen keine Unternehmen – sie verlassen Vorgesetzte. So oder ähnlich lautet ein zuletzt häufig gehörter Satz, der einiges erahnen lässt über die allgemeine Zufriedenheit von Mitarbeitenden im Betrieb und mit dem Führungsverhalten ihrer Chef:innen.

Tatsächlich zeigt etwa die aktuelle Gallup-Studie 2021, dass die emotionale Bindung von Beschäf­tigten in Deutschland gegenüber ihren Arbeitgebern so gering ist wie nie zuvor. Auch sinke laut Gallup-Experten der Stellenwert der Arbeit insgesamt für die Bewertung der eigenen Lebenszufriedenheit. In den Medien kursiert bereits die Frage, ob das aktuelle US-amerikanische Phänomen der „Great Resignation“ schon über den Ozean geschwappt sei.

Führungsverhalten beeinflusst die Zufriedenheit

HFH-Absolvent Michael Retzlaff konstatiert in seiner Master-Thesis die „Führungs-Problematik“ in Unternehmen als eine mögliche Ursache für diese Unzufriedenheit. Denn dieser „durch Führung verursachte Missstand der niedrigen emotionalen Bindung“ wirke sich maßgeblich auf die Mitarbeiterzufriedenheit aus. Und wenn diese leidet, sinke auch ihr Engagement, ihre Leistungsfähigkeit und somit letztlich auch der Erfolg des gesamten Unternehmens.

Wie aber könnte man diesem Problem konstruktiv begegnen? In seiner Abschlussarbeit wirft der Absolvent im MBA-Studiengang der HFH eine Forschungsfrage auf, die aufhorchen lässt: Wie kann ein auf Liebe basierter Führungsstil erfolgreich in Unternehmen umgesetzt werden? 

Liebe? Dieser Begriff passt doch so gar nicht in ein erfolgsorientiertes Business-Umfeld – oder etwa doch? Bevor wir hier Dinge missverstehen, fragen wir direkt bei Michael Retzlaff nach und lassen uns seine Master-Thesis (Zusammenfassung (PDF)) erklären. Diese hat er Anfang des Jahres eingereicht, ihr vollständiger Titel lautet:

„Wie auf Liebe basierte Führung funktioniert: Eine qualitative Untersuchung in der deutschen Privatwirtschaft“.

Hallo Michael! Liebe und Business – das klingt beim ersten Mal hören irgendwie komisch. Kannst du uns auf die Sprünge helfen und erklären, wie das zusammenpasst?

Es ist tatsächlich so, dass ich bewusst aufrütteln möchte mit dem Begriff „Liebe“ im Geschäftsumfeld. Kaum ein Begriff ist so inflationär verwendet, gleichzeitig jedoch nicht ausreichend definiert.

Wenn wir „Definition of Love“ suchen, kommen mehrere Millionen Treffer. Gleichzeitig habe ich jedoch keine bessere Alternative gefunden, die in der Lage wäre auch nur ansatzweise treffend das zu beschreiben, wofür ich stehe.

Dennoch habe ich vollstes Verständnis für alle, die Liebe erst einmal nur mit ihrem Partner in Verbindung bringen. Ich frage dann immer nach, wie es mit den Eltern aussieht. „Liebst du deine Eltern?“ - „Ja“. „Liebst du deine Mutter so wie deine Frau?“…

Spätestens da wird klar: Es gibt mehr als nur eine Form der Liebe. Kinder, Freunde, Arbeit, Essen… Es gibt viele Abstufungen. Mir persönlich haben die sechs Dimensionen der Liebe nach bell hooks (bürgerlich Gloria Jean Watkins, US-amerikanische Literaturwissenschaftlerin; Anm. d. Redaktion) aus ihrem Buch "All About Love: New Visions“ am besten geholfen.
 

Ok, da gibt es offensichtlich Unterschiede! Welche Form der Liebe „geht“ denn innerhalb von Unternehmen?

Lass uns ein Experiment machen: Wenn du an ein Unternehmen denkst und ich sage „Liebe“. Findest du, dass es sich passend anhört? Vielleicht nicht?

Jetzt denke bitte bei jedem der folgenden Begriffe (vgl. bell hooks) nach, ob er zum Unternehmensumfeld passen könnte oder nicht:

„Vertrauen“, „Verantwortung“, „Respekt“, „Fürsorge“, „Hingabe“, „Wissen“. Das hört sich doch gar nicht mehr so falsch an, oder?
 

Das stimmt – die meisten von uns haben sich vermutlich noch nie so wirklich Gedanken gemacht, wie man „Liebe“ eigentlich definieren könnte. Wie bist du denn darauf gekommen, dich damit zu beschäftigen?

Es war ein Weg. Was mir sehr geholfen hat, waren die zehn Jahre Erfahrung als Mensch in Führungsverantwortung.

In dieser Rolle habe ich mich von Anfang an damit beschäftigt, was eigentlich gute Führung ist und wie ich Menschen von einer Sache begeistern kann, ohne disziplinarische Macht auszuüben und ohne selbst zu viel entscheiden zu müssen.

Ausschlaggebend für den Begriff der Liebe war am Ende „Die Kunst des Liebens“, ein schon etwas älteres Buch von Erich Fromm. Beim Lesen habe ich erstmals über die verschiedenen Formen der Liebe nachgedacht und reflektiert, dass ich eigentlich aus einer Grundhaltung der Liebe heraus führe.

Gleichzeitig habe ich große Missstände beobachtet oder darüber im Austausch mit anderen Führungspersonen berichtet bekommen.

Schaubild - Kreisdiagramm zum Thema "emotionale Bindung"

Ist die Stimmung im Geschäftsumfeld aktuell wirklich so schlecht? Was hast du durch deine Recherchen aus Studien und Literatur herausgefunden?

Nicht zuletzt die Gallup Studien zeigen Jahr für Jahr, wie schlecht es den Menschen in unseren Unternehmen eigentlich geht. Vor allem mit einer kleinen Umrechnung wird das deutlich:

Wenn ca. 15 % der Menschen in Unternehmen eine hohe emotionale Bindung an ihr Unternehmen haben, dann haben 85 % das eben nicht und 15 % haben sogar schon innerlich gekündigt. Das sind also weit über 30 Millionen Menschen in Deutschland, die entweder Dienst nach Vorschrift machen oder innerlich gekündigt haben.

Ich finde das eine erschreckend hohe Zahl! Das sind die Menschen, die sich den halben Sonntag verderben, weil sie Angst vorm Montag haben, die gestresst nach Hause kommen und diesen Stress in ihr Privatleben übertragen.

Andere Studien zeigen ein ähnliches Bild und wieder andere Studien zeigen den großen Einfluss der Menschen in Führungspositionen. Der Volksmund sagt ja auch so schön „Der Fisch stinkt vom Kopf“.

Das soll jetzt kein Führungskräfte-Bashing sein, ich zähle ja selbst dazu. Es ist vielmehr eine Sensibilisierung vor der Aufgabe!

Du hast in deiner Arbeit nicht nur Literatur gesichtet, sondern vor allem zahlreiche Experteninterviews mit Menschen in Führungsverantwortung geführt. Wie bist du da vorgegangen?

Ich wusste relativ früh, dass ich eine qualitative Arbeit schreiben wollte. Ich liebe es, Menschen zuzuhören und aus ihren Lebensgeschichten zu lernen. Gutes Zuhören habe ich relativ früh als Lernfeld für mich entdeckt. Ich sage gerne „Wir haben zwei Ohren, aber nur einen Mund!“ um das Verhältnis von Reden zum Zuhören bei Führungspersonen zu verdeutlichen.

Wissenschaftlich argumentiert wählen wir ja das qualitative Verfahren. Wir nutzen z.B. Interviews, wenn ein Thema relativ neu ist und es noch wenig Literatur gibt.

Der Vorteil beim qualitativen Vorgehen ist auch, dass wir neue Themen entdecken, an die wir vorher gar nicht gedacht haben. In den Interviews sind die Fragen recht offen und durch Nachfragen kommen Antworten, die wir uns vorher nicht hätten ausdenken können.

Wenn ich quantitativ vorgehe, also z. B. mit Fragebogen Zahlen gewinne und sie statistisch auswerte, setzt das eine breitere Basis des bereits erhobenen Wissens voraus.

Gleichzeitig bin ich auch im Führungsumfeld kein Freund von Kennzahlen und Statistiken, wenn darüber die Menschen vergessen werden. Ich bin Anhänger der Auffassung „Behandle die Menschen gut, dann werden auch deine Kennzahlen gut“. Daher war für mich die Wahl, mit Menschen zu reden am naheliegendsten.
 

Und was haben die Interviewten geantwortet? Sind deine ursprünglichen Annahmen durch die Auswertungen bestätigt worden?

Erst einmal möchte ich den 20 Teilnehmer:innen herzlich danken. Ich habe in jedem Gespräch sehr viel gelernt.

Unter dem Begriff „Liebe“ haben die meisten eine Grundhaltung verstanden.

Gleichzeitig herrschte Einigkeit, dass der Begriff in der Geschäftswelt (noch) eher auf Unverständnis stößt, gleichzeitig jedoch notwendig sei.

Portrait Michael Retzlaff

Michael Retzlaff, Absolvent des MBA General Management der HFH. In den Fernstudium-Erfahrungsberichten erzählt er, warum er den MBA an der HFH im Fernstudium absolviert hat, welche Schwerpunkte er gesetzt hat und welche Herausforderungen sich ihm gestellt haben.

Du schreibst in deiner Arbeit, dass „eine menschliche, auf Liebe basierende Unternehmenskultur“ für alle Beteiligten Vorteile bringen könnte. Wie lässt sich denn Liebe im Unternehmen nun umsetzen?

Vorab sollte ich sagen, dass es eine Grundlagenarbeit ist und ich nur Ideen erfassen konnte. Zukünftige Arbeiten werden die genauen Umsetzungsmöglichkeiten aufzeigen.

Was ich jedoch festgestellt habe, ist ein Dreiklang. Wir brauchen eine Grundhaltung der Liebe als Basis und dann die Anwendung in strategischen (langfristigen) und operativen (täglichen) Handlungen. Bevor das jetzt zu theoretisch bleibt, möchte ich Umsetzungsbeispiele aus den Interviews nennen:

Bei der Grundhaltung ist z. B. wichtig, mit welcher Haltung ich Menschen begegne. Unterstelle ich z. B. eine positive Absicht? Kritisiere ich eher oder lebe ich positive Bestärkung? Schenke ich Vertrauen, oder fordere ich es ein?

Bei den Handlungen ist strategisch entscheidend, eine gute Vision zu haben. Gleichzeitig dürfen Menschen mit Führungsverantwortung Räume schaffen, in denen menschliche Begegnung möglich wird – das darf gerne auch die Kaffeeküche sein. Aber auch positive Team-Erfahrungen, etwa durch gemeinsame Projekte, dürfen geschaffen werden.

Die Kommunikation und Vorbildfunktion sind dabei ganz wichtig: im operativen Geschäft und am besten täglich. Denn Menschen merken es einfach, wenn sie einerseits Vertrauen schenken sollen, die entsprechende Führungsperson jedoch nur Vertrauen einfordert und nicht selbst gibt.
 

Und welche Vorteile siehst du konkret, wenn es den Führungskräften wirklich gelingen sollte, diese menschliche und auf Liebe basierenden Unternehmenskultur im Betrieb zu etablieren?

Es sind so viele, da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll!

Wenn ich aus der Grundhaltung der Liebe heraus argumentiere, dann möchte ich, dass es allen Menschen gut geht und niemand leiden muss. Die passende Form der Liebe ist hier übrigens die allgemeine Menschenliebe bzw. Nächstenliebe.

„Was habe ich davon?“, mag jetzt eine Geschäftsführerin oder ein Firmeninhaber fragen. Hier habe ich in der Masterarbeit erst einmal untersucht, wie Menschen überhaupt Erfolg definieren.

Nicht alle sehen hier „Gewinn“ oder andere monetäre Ziele im Vordergrund. Aber auch bei den monetären Zielen zeigen Studien, dass wir eine Verbesserung sehen: So steigen z. B. Umsatz und Gewinn u. a. durch die geringere krankheitsbedingte Abwesenheit und deutlich höhere Produktivität. Tatsächlich sind durchschnittlich auch die Gehälter niedriger, der „Schmerzensgeld“-Aufschlag entfällt… Auch passieren deutlich weniger Arbeitsunfälle.
 

... dann ist das doch sicher auch positiv für die Unternehmensreputation und das Employer-Branding?

Ja, eine deutliche Erleichterung tritt z. B. für die Unternehmen ein, die den Fachkräftemangel beklagen. Hier machen bei einer positiven Unternehmenskultur die Mitarbeiter:innen schon so viel Werbung bei Freunden und Bekannten oder in sozialen Medien, dass ausreichend Nachwuchskräfte zur Verfügung stehen. Das wird durch eine deutlich geringere Fluktuation noch unterstützt.

Sehr entscheidend und zunehmend wichtig, ist eine hohe Reaktionsfreudigkeit an Veränderungen. Wenn die Menschen nur Dienst nach Vorschrift machen, dann ändern sie nichts. Wenn sich dann aber die Welt außerhalb des Unternehmens ändert, dann hat das Unternehmen ein großes Problem.
 

Wie können Führungskräfte und Unternehmen vorgehen, wenn sie das wirklich umsetzen wollen?

Bei jeder Veränderung ist die Entscheidung wichtig. Wir verlieren keinen Ballast, wenn wir nicht die Entscheidung dazu treffen. Wir hören nicht auf zu rauchen, wenn wir nicht die Entscheidung dazu treffen. Wir haben keine auf Liebe basierende Unternehmenskultur, wenn wir uns nicht dafür entscheiden!

Die Umsetzung erfolgt dann anhand des schon vorgestellten Dreiklangs aus Grundhaltung und strategischen sowie operativen Handlungen.

Die Menschen in Führungsverantwortung, die diese Entscheidung treffen können, dürfen sich also erst einmal über ihre eigene Haltung, ihre eigenen Werte klar werden. Auch die Einstellung sich selbst gegenüber ist wichtig, da wir andere nur lieben können, wenn wir uns selbst lieben.
 

Und wenn es den Verantwortlichen gelingt, diese Haltung vorzuleben – wie wirkt sich das im Idealfall auf die Beschäftigten aus?

Durch diese Haltung wird es möglich, dass die Potenziale anderer entfaltet werden. Am Ende hilft das auch den Menschen in Führungsverantwortung.

Sie können schließlich immer mehr abgeben und müssen auch selbst immer weniger Ängste erleben, da sie lernen, den Menschen in ihrer Verantwortung zu vertrauen. Dieses Vertrauen ersetzt dann langfristig die Kontrolle, die ja oft recht zeitintensiv und wenig wertschöpfend ist.

Beenden möchte ich das Interview gerne mit den gleichen Worten wie in meiner Masterarbeit: Die Menschheit hat das Potenzial, all ihre Probleme zu lösen. Das wird ein langer und beschwerlicher Weg, der sich mit Liebe leichter gehen lässt. Schließlich wird „[i]m Angesicht der Liebe […] alles einfach“ (Rinpoche 2019: 226).